Was mir am Tag meiner ersten Bettelversuche passierte, war für mich einfach nur überwältigend! Erneut stand ich tags darauf in aller Frühe auf der Straße und fühlte mich zunächst ratlos. Auf keinen Fall wollte ich erneut betteln gehen und mich damit vor dem himmlischen „Orden” in Verlegenheit bringen. Diese Entscheidung würde meiner Mutter bestimmt nicht gefallen. Trotzdem nahm ich diese Bürde entschlossen auf mich und folgte meinem ersten Impuls. Daraufhin erklang aber keine Stimme, die mich forderte ihr zu folgen. Ebenso wenig zeigte sich eine Intuition, die über Verstandeskraft oder Vernunft das weitere Vorgehen mitteilte. Vielmehr vermittelte eine starke Anziehung aus meiner Ur-Natur, was getan werden wollte. Zugleich fühlte jede Zelle meines Menschseins die unerschütterliche Gewissheit dieser richtungsweisenden Lenkung zu folgen. Selbstlos und völlig nackt von eigenen Vorstellungen stellte ich mich im vollen Vertrauen auf die innere Führung ein. Sogleich setzte sich mein Körper wie durch unsichtbare Zauberhand gesteuert in Bewegung.
Zu meinem Erstaunen lenkte die Körperintelligenz ohne Umschweife die verwinkelte Gasse vom Vortag an. Mein völlig durchgefrorener Leib schmiegte sich sofort in die Hausnische, um mich dann lächelnd zu Boden sinken zu lassen. Im nebelverhangenen Dunst waren selbst die Gräser zu starren Säulen gefroren. Genauso fühlte auch ich mich. Der eisige Wind pfiff derart unnachgiebig durch alle Kleiderschichten, dass es mir schwer fiel, den leidenden Körper loszulassen. Wieder nabelte ich jedes kleinste, nach außen gerichtete Gefühl ab. Selbst die Sinnesbahnen und die verknüpften Wahrnehmungen holte ich zu mir zurück. Nach zwanzig Minuten hatte ich es endlich geschafft. Vollständig von der körperlichen und äußeren Wahrnehmung gelöst, erlebte ich mich tief in meinem inneren Wesen verankert. In dieser befreiten Betrachtung begann sich zugleich, ein unsagbar schönes Licht aus meiner Herzensmitte auf alles auszuweiten. Im liebevoll wärmenden Licht wurde mir augenblicklich wohlig, als existiere in dieser Dimension keine Kälte mehr. Das Leuchten verwandelte die äußere Welt unmittelbar in ein bezauberndes Prachtwerk. Alles, die gefrorene Landschaft, der Wind und das einheitliche Grau, zeigten sich auf einmal in unwiderstehlichen Farben. Eine Brillanz und ein Farbenreichtum, die normalerweise gar nicht vorkommen! Dieser Anblick ließ die triste Welt von mir abfallen und ich genoss es, in die Schönheit des Gesehenen einzutauchen. Nach einigen Minuten rief mich ein unbestimmtes Gefühl abermals in die Tiefe meines Seins zurück, um für eine Weile die Welt und mich vollständig zu vergessen. Sogleich kehrt ich ein und verschwand im Nichts.
Zur selben Zeit wie am Vorabend wurde ich von innen heraus sanft gerufen, um mich auf den Heimweg zu begeben. Abermals musste ich so den ganzen Tag zugebracht haben, denn wieder fehlte jede Erinnerung an die Zwischenzeit. Der Augenblick schien still zu stehen, als würde es Zeit und Raum in dieser Versenkung gar nicht geben. Im ewigen Nichts gab es weder ein „Ich“ noch eine Welt, auch keine Körperschaft oder irgendeine Form von „Sein“. Erstaunt betrachtete ich meinen Zustand. Mein ganzes Wesen leuchtete in einer durchgehend weiß-goldenen Aura, in der ich mich wie ein kleiner Engel mit unsichtbaren Flügeln fühlte.
Und dann wiederholte sich ein weiteres Geschehen vom Vortag: Solange ich gemütlich im Hauswinkel saß und mich umschaute, sah ich alles wunderbar verklärt. Doch mit der ersten Bewegung wurde ich direkt wieder in eine Eiswelt geworfen, die mich kaum unfreundlicher hätte empfangen können.
Mit ungewissem Gefühl trat ich schließlich vor meine Mutter und zeigte wortlos meine leeren Taschen. Sie verhielt sich ungewöhnlich geduldig und meinte nur, ich müsse mich eben mehr anstrengen und nicht alles alleine weg futtern. Brav nickte ich und ging freiwillig ins Bett, um nicht doch noch ein Gesprächsfeuer zu entfachen.
In den darauffolgenden Wochen lief alles nach demselben Schema ab. Meine Schwester bemühte sich fleißig um die Gunst der Mutter und ich tat nichts, als den ganzen Tag in der eisigen Nische zu kauern. Doch dafür gelang es mir immer schneller, in den Zustand der Losgelöstheit einzutauchen. Nach kurzer Zeit konnte ich abends sogar das goldene Licht und die behagliche Atmosphäre mit nach Hause tragen, ohne einen Seitenwechsel zu erleben. Was für ein Vorzug, nachts nicht mehr in die Kälte herauszutreten, sondern von einer beheizten Aura mit integrierter Beleuchtung nach Hause begleitet zu werden!
Selbst Mutter wurde von dieser stillen Präsenz unweigerlich beeinflusst und hörte damit auf, mich verbal zu bedrängen. Sie war schon froh in der Annahme, dass ihre beiden Kinder von lieben Mitmenschen gefüttert würden und dass sie sich nicht mehr um die Ernährung kümmern müsste. Daher beließ ich sie in diesem Glauben und war einfach nur dankbar, dass sie so ruhig und geduldig war. Schwesterlein durfte jeden Abend eine Runde auf dem Schoß sitzen, solange sie mit etwas erbetteltem Essen und ein paar funkelnden Münzen Ausgleich dafür zollte. Kaum auf Mutters Beinen gelandet, blickte sie jedoch stets verächtlich auf mich herab, begleitet von der unausgesprochenen Drohung, ihr diesen Vorzug niemals streitig zu machen. Dazu bestand keine Sorge, denn die Herrlichkeit, die mich ummantelte, konnte nie durch physische Liebe ersetzt werden.
Seit Wochen hatte ich weder physische Nahrung noch Wasser zu mir genommen und fühlte mich einfach nur prächtig! Ebenso interessierten mich irdische Belange nicht mehr, da ich vollkommen von innen heraus über das leuchtend-goldene Feld getragen wurde. In dieser Vollständigkeit fühlte ich mich derart himmlisch genährt, erfüllt von Lebendigkeit, dass ein voller Bauch das niemals hätte aufwiegen können.
Die Erfüllung irdische Bedürfnisse erlebte ich nicht mehr, auch kein Verlangen danach. Physische Berührungen fühlten sich ohnehin belastend für meinen Energiekörper an. Jegliche Tuchfühlung zog mich jedes Mal aus dem geistigen Einheitsfeld heraus und in eine ausgesprochen verkörperte Selbstwahrnehmung hinein, in eine materielle Form, die zugleich die übergeordnete Wahrnehmung ausblendete. Aus diesem Grund vermied ich es tunlichst, über Berührungen an eine Körperschaft erinnert zu werden. Das fühlte sich an, als würde ich aus dem alles umfassenden Geist herausgerissen und auf einen erstarrten Punkt komprimiert. Ein „Ich“, in leibhaftiger Verkörperung, das sich in einer manifestierten Umgebung wiederfindet! Wie aus dem Nichts wurde dadurch das himmlische Licht ausgeknipst und mein himmlisches Wesen landete in Dunkelheit.
Das passierte jedesmal, wenn sich meine allumfassende Aufmerksamkeit auf etwas Bestimmtes konzentrierte. Die Wahrnehmung fiel aus dem Gewahrseinszustand des „All-Einen“ heraus, fixierte ein Objekt und verlor dabei das Ganzheitliche aus den Augen. Gar nicht so einfach, mich als überdimensionales Geistwesen in einer Feldbetrachtung wahrzunehmen und gleichzeitig als verkörpertes „Ich“ gegenwärtig zu sein. Doch das sollte sich alsbald ändern. Ab einem gewissen Punkt spielte es plötzlich keine Rolle mehr, da meine mitgebrachte Aura beinahe durchgehend stabil blieb und selbst Berührungen keine Wirkungen mehr darin zeigten. Doch bis dahin spürte ich intuitiv, dass es meinem menschlichen Dasein in dieser Aufbauphase diente, ihm zum Integrieren des Feldes einen geschützten Raum zu bieten.